Die Sprachpuristen haben einen schweren Stand - nun sind auch Helvetismen salonfähig

Die Romands, stolz auf ihr "patois"

Die kulturelle Emanzipation der welschen Schweiz vom grossen Frankreich macht Fortschritte. In diesen Tagen erscheint das erste wissenschaftlich fundierte Wörterbuch, das die Besonderheiten des von den welschen Schweizern gesprochenen Französischen dokumentiert. Eine kulturelle Pioniertat mit politischer Tragweite.

Bis vor kurzem war die Sprachgeschichte der Romandie die Geschichte der bedingungslosen Unterwerfung der welschen Schweiz unter die französische Sprachnorm. Dies zeigt die Tatsache, dass die Romands - im Gegensatz zu den Deutschschweizern - ihre Dialekte fast völlig aufgegeben haben. Vom 16. Jahrhundert an begannen sie nämlich die von den französischen Reformatoren und dem französischen Königshof gesprochene Sprache zu sprechen. Das Französisch der Ile-de-France wurde weltweit zur Hochsprache; ein regionaler Dialekt hat Karriere gemacht.

Doch die welschen Schweizer verloren nicht nur ihre Dialekte, die im französischen Sprachraum bezeichnenderweise als "patois" (von "patte" - Pfote - abstammend) charakterisiert werden. Da das Standardfranzösisch in der Westschweiz nach wie vor Einflüsse der Dialekte aufwies, erklärten Sprachpädagogen auch diesen Regionalismen den Krieg. Der Publizist Louis-Théodore Wuarin schrieb Anfang des Jahrhunderts in einem Genfer Sprachbuch: "Das regionale Französisch ist wie ein hinterhältiger Feind, der uns auf allen Wegen unseres Denkens auflauert." Ein Mitarbeiter sagte laut, um was es bei dieser Ausmerzaktion gegen die Regionalismen letztlich ging: Es soll die Demütigung vermieden werden, vor Parisern provinziell zu erscheinen.

Natürlich gab es auch immer eine Gegenbewegung. In den zwanziger Jahren begann das "Glossaire" der welschen Patois zu erscheinen, das Gegenstück zum Idiotikon, dem Wörterbuch des Schweizerdeutschen. 1926 brachte der Neuenburger Lehrer William Pierrehumbert seinen "Dictionnaire du parler neuchâtelois et romand" heraus, ein grossartiges Buch, das aber wenig beachtet wurde. Auch Schriftsteller besannen sich auf die Stärke der lokalen Eigenarten. Beispielsweise entwickelte der Waadtländer Charles-Ferdinand Ramuz (der auf der Zweihunderternote abgebildet ist) eine vom waadtländischen Sprachduktus beeinflusste kraftvolle Sprache. Doch blieben diese Bemühungen isoliert: Romands versuchten auch weiterhin, möglichst "le bon français" zu praktizieren, und das heisst: so zu schreiben und zu sprechen, dass man ihnen ihre Herkunft nicht anmerkt.

Die Abwertung des Regionalen im französischen Sprachraum wurde erst in den sechziger Jahren richtig in Frage gestellt. Chansonniers aus Québec, Schriftsteller aus Afrika, Wallonien und der Westschweiz hatten in Paris plötzlich Konjunktur. Als der Waadtländer Schriftsteller Jacques Chessex 1974 den Prix Goncourt gewann, wurde dies als späte Geste der Pariser Intelligenzija gegenüber der welschen Schweiz aufgefasst.

Französische Wörterbuchverlage, die Wächter über die Reinheit der Sprache, begannen nun auch, eine beschränkte Anzahl von Helvetismen, Belgizismen und Québezismen in ihre Lexika aufzunehmen. Diese Konzessionen hatten aber etwas durchaus Paternalistisches: Die Romands wurden wie Verwandte vom Land behandelt, die man von Zeit zu Zeit in die Stadt einlädt, um sich an deren bäuerlich-exotischen Akzent zu weiden.

Was der Westschweiz fehlte, war ein zeitgemässes Wörterbuch, das die Vielfalt des heute in der Romandie gesprochenen Französisch dokumentiert. Diese Lücke ist jetzt gefüllt, dank dem "Dictionnaire suisse romand".

Es ist ein Werk von 864 Seiten, das von einem Romanisten aus Québec, André Thibault, unter der Leitung von Pierre Knecht redigiert und vom Genfer Verlag Editions Zoé gestaltet wurde. Hunderte von Regionalismen werden in diesem Buch aufgelistet, erklärt und bisweilen mit einem Zuviel an Zitaten belegt (für Rösti, Röstis usw. allein 28 Zitate), was dem Verständnis eher hinderlich ist.

Der Dialektologe Pierre Knecht, Honorarprofessor der Universität Neuenburg, unterteilt die Romandismen in vier Kategorien. Da gibt es Archaismen, Wörter also, die im "französischen Französisch" als veraltet gelten, in der Westschweiz aber lebendig geblieben sind wie "heurter" für "frapper à la porte" (an die Tür klopfen).

Zweitens trifft man auf typisch welsche Neuschöpfungen wie "gentiment" als Synonym von "lentement" (langsam).

Drittens findet man eine Vielzahl von Wörtern, die den Einfluss des Patois verraten wie beispielsweise: "la chotte" für "l'abri" (Unterstand).

Und eine vierte Kategorie von Wörtern - die umstrittenste - besteht aus Anleihen bei benachbarten Sprachen &endash; also vor allem aus Germanismen und Alemannismen. Zu dieser Kategorie gehört das berühmte "poutzer", das man ja hier nicht zu übersetzen braucht.

Der Dictionnaire suisse romand führt aber viele weitere überraschende Lehnwörter an: "chablon" (von Schablone) etwa, aber auch "Stöck" und "Stich" und "Schüblig" und "Schoppen" und "Spätzli". Sprachpuristen dürfte diese "Überfremdung" der französischen Sprache schockieren, aber Pierre Knecht wehrt sich: "Der Dictionnaire registriert, wie gesprochen und geschrieben wird, und nicht, wie gesprochen oder geschrieben werden soll."

Dieses Wörterbuch ist eine Pioniertat. Erst nächstes Jahr wird das Wörterbuch der kanadafranzösischen Regionalismen erscheinen, und irgendwann werden wohl auch die Belgier folgen. Die Herausgabe eines grossen Wörterbuchs ist aber immer auch eine politische Tat. Die welsche Schweiz lebt in einer doppelten Minderheitsstellung: politisch-wirtschaftlich gegenüber der deutschen Schweiz und kulturell gegenüber Frankreich. Mit dem neuen Wörterbuch hat die welsche Schweiz einen weiteren Schritt getan, um aus dem Schatten der Grande Nation zu treten. Zudem stellt das Werk auch einen Beitrag dar, um den berühmt-berüchtigten Röstigraben zu überbrücken und die Verständigung zwischen den Sprachregionen zu erleichtern. Denn der Französischunterricht ist ja in der deutschen Schweiz unter gehörigen Druck geraten; es wird kritisiert, das "Schulfranz" sei praxisfremd. So wie sich die Romands beklagen, sie kämen mit ihrem Schuldeutsch in der deutschen Schweiz nicht weiter, stossen umgekehrt auch die Deutschschweizer in der Romandie auf Sprachbarrieren. Was nützt ihm sein "Schulfranz", wenn ein Romand "Ça roille" sagt? Dank dem Dictionnaire suisse romand kann er solchen Situationen künftig gelassen entgegensehen: "roiller" = pleuvoir à verse = Bindfäden regnen.

 

CHRISTOPHE BÜCHI

Die Weltwoche

2.+8. Januar 1998 

 

André Thibault, Pierre Knecht: Dictionnaire suisse romand. Editions Zoé. Genf 1997. Fr. 58.- (bis 31. Januar 1998 - dann Fr. 68.-)